Die Dämonen des Terrors
Reihe: Politische Gewalt im 20. Jahrhundert, Teil 1
Von Gerd Koenen
http://www.deutschlandfunk.de/die-daemonen-des-terrors.1184.de.html?dram:article_id=185397
Der von der RAF entführte Hanns Martin Schleyer am 28.9.1977 (AP Archiv)
Das 20. Jahrhundert war das blutigste in der Menschheitsgeschichte. Die Diskussion über die Ursachen, Manifestationen und Konsequenzen politischer Gewalt allzu oft auf den eigenen Nationalstaat verengt worden.
„Wir haben nach 43 Tagen Hanns Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet … Für unseren Schmerz und unsere Wut über die Massaker von Mogadischu und Stammheim ist sein Tod bedeutungslos … Wir werden Schmidt und den ihn unterstützenden Imperialisten nie das vergossene Blut vergessen. Der Kampf hat erst begonnen. Freiheit durch bewaffneten antiimperialistischen Kampf.“
Mit diesem Kommuniqué, das am 19. Oktober 1977 bei der linken französischen Tageszeitung „Libération“ einging und mit dem Logo der Gruppe, einem Stern mit Maschinenpistole, beglaubigt war, beendete die Rote Armee Fraktion (RAF) das Drama des sogenannten Deutschen Herbstes. Die Leiche des entführten Arbeitgeberpräsidenten Schleyer wurde wie angegeben im Kofferraum eines Wagens gefunden. Wie die kriminalistische Rekonstruktion ergab, hatte er vor seinem Tod niederknien müssen und war durch drei Genickschüsse ermordet worden.
Die Ereignisse des Jahres 1977 und das vorangegangene und nachfolgende Stakkato von Attentaten und Geiselnahmen, Hungerstreiks und Prozessauftritten, Morden und Selbstmorden sind tief ins Gedächtnis der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft eingegraben. Tatsächlich hat man in der Geschichte des deutschen Linksterrorismus der 1970er-Jahre viele Ingredienzien in Reinform beisammen, die für den modernen Terrorismus überhaupt charakteristisch sind. Das eingangs zitierte Kommuniqué verspricht Rache „für das vergossene Blut“ – und formuliert eine Zielsetzung, die so zeitlos und ortlos, so grenzenlos und wesenlos wie selbstbezogen ist: „Freiheit durch antiimperialistischen Kampf“. Der Weg war das Ziel. Oder wie die überlebende Irmgard Möller ihre Erinnerungen überschrieb: „RAF, das war für mich Befreiung.“
Was bezeichnet man genau mit „Terror“ oder mit „Terrorismus“? Wo ist sein Platz in der Gewaltgeschichte des kurzen 20. Jahrhunderts, aber auch des langen 19. Jahrhunderts davor? Und welche Zäsur bedeutet jenes terroristische Großereignis, der 11. September 2001, mit dem das neue 21. Jahrhundert eröffnet wurde, und das den Beginn eines globalisierten „Kriegs gegen den Terror“ markiert hat – und genau dazu vermutlich auch einladen sollte. Willkommen in der Hölle?
Es macht wenig Sinn, den Begriff uferlos auszuweiten, wie dies zum Beispiel die Regierung Bush jr. auf verhängnisvolle Weise getan hat, indem sie den überlebensgroßen Popanz eines „internationalen Terrorismus“ aufbaute, der als fiktives politisches Gesamtsubjekt und Gegenspieler zur westlichen Demokratie in den Raum gestellt wurde.
Vielmehr muss es heute darum gehen, das mit Terrorismus umschriebene Phänomen nüchtern einzugrenzen, es politisch und ideologisch zu spezifizieren und geografisch wie historisch genauer zu lokalisieren.
Soviel ist von vornherein klar: Terror und Terrorismus sind zunächst polemische und pejorative Begriffe, die Feinde einer gegebenen Macht und einer gesellschaftlichen oder internationalen Ordnung markieren sollen: eben als Terroristen oder als Terrorregimes. Wann immer Untergrundorganisationen oder revolutionäre Regimes sich den Terror positiv auf die Fahnen geschrieben haben, da gewissermaßen als einen legitimen Gegenterror gegen den der Parteigänger des alten Regimes. So verkündete also der blasse Maximilien Robespierre 1794 in klassisch-antikisierender Rede:
„Die Regierung der Revolution ist der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei.“ – „Wenn die Triebkraft der Volksregierung in Friedenszeiten die Tugend ist, so ist die Triebkraft in Zeiten der Revolution zugleich Tugend und Terror: die Tugend, ohne die der Terror machtlos ist, der Terror, ohne den die Tugend machtlos ist.“
Tugend ist Terror, Terror ist Tugend – das ist bereits eine frühe Kernformel für das Selbstbild eines modernen Revolutionärs, der das moralische Opfer erbringt, sich für eine absolute (weltliche oder göttliche) Freiheit mit dem Blut von Schuldigen wie von Unschuldigen zu beflecken. Eben deshalb sehen sie sich auch nicht als Terroristen, sondern als Revolutionäre, Freiheitskämpfer oder Djihadisten; und sofern sie an die Macht kommen und organisierten Terror üben, dann im Namen der Befreiung des Proletariats, eines unterdrückten Volks oder gleich im Namen Gottes wie nach der iranischen Revolution 1979.
Dieser grundlegenden Schwierigkeit ist allerdings auch nicht zu entkommen: Nämlich dass Personen oder Gruppen, die solchen Terror üben, anders als gewöhnliche kriminelle Gewalttäter oder als brutale Diktatoren älteren Schlages, für politische Ziele eintreten, die als solche durchaus legitim oder sogar unabweisbar sein können. So notwendig es ist, die dünne Grenze zwischen einer durch minimale Regeln und Konventionen eingehegten und einer uferlos entgrenzten, maßlosen Gewalt mindestens theoretisch und normativ zu ziehen – so wenig entbindet das von der Aufgabe, terroristische Gewalt in ihrem politischen Kontext zu bewerten.
Auch legitime Befreiungsbewegungen, die diesen Namen verdienen, haben sich zeitweise terroristischer, insoweit illegitimer Mittel bedient, so beispielsweise der südafrikanische ANC gegen das brutale Regime der Apartheid.
Umgekehrt: Selbst Gruppen, die über Jahrzehnte in reinen, sich selbst nährenden Terrorismus abgeglitten sind, wie etwa die nordirische IRA und ihre ebenso terroristischen protestantischen Gegenspieler, können, wenn sie greifbare Ziele verfolgen, in einen politischen Prozess wieder hineingeholt und pazifiziert werden. Dagegen gibt es andere, bei denen das so gut wie unmöglich erscheint, weil ihr Kampf auf nichts Konkretes gerichtet ist, sondern sich in einer Sphäre der absoluten Feindschaft bewegt, etwa gegen „den Kapitalismus“ oder „den Imperialismus“, wie im Falle der RAF, oder gegen die Welt der „Ungläubigen“, wie im Fall der Islamisten.
Neben solchen Differenzierungen ist es aber auch notwendig, den heutigen globalisierten Terrorismus als ein spezifisches historisches Phänomen zu erfassen und zu lokalisieren. In die größere Gewaltgeschichte des vergangenen Jahrhunderts hineingestellt, werden die heutigen Formen des Terrorismus von vergangenen Exzessen eines bürgerkriegsmäßig entfesselten und/oder staatlich organisierten Massenterrors noch immer weit in den Schatten gestellt.
Sehr summarisch lässt sich das Bild einer Welt des 20. Jahrhunderts zeichnen, die von tiefen Zäsuren bestimmt ist. Das terroristische Attentat von Sarajevo 1914 liefert gleichsam den Startschuss zu einer Ära der Weltkriege, Revolutionen und Bürgerkriege, die von Exzessen totalitären Massenterrors, sozialen und ethnischen Ausrottungsaktionen sowie globalen Eroberungs- und Vernichtungszügen charakterisiert ist, wie sie die Welt bis dahin nicht gekannt hatte.
Diese Ära, die mit dem Atombombenabwurf über Hiroshima und Nagasaki im August 1945 endet, als der äußersten Steigerung eines kriegerischen Terrors gegen feindliche Zivilbevölkerungen, geht bruchlos über in eine Epoche lokaler Kriege und endemischer Bürgerkriege. In ihnen vermischen und überlagern sich die Kämpfe für eine Dekolonisierung Afrikas, des Nahen Ostens und Asiens mit mörderischen Stellvertreterkriegen der beiden neuen Militärblöcke und ihrer antagonistischen Vormächte USA und UdSSR, zusätzlich gesteigert und verkompliziert durch das militante Hervortreten der neugegründeten Volksrepublik China im Namen einer „Dritten Welt“. Die einzigen Schranken für die Eskalation dieser Kriege und Bürgerkriege werden eben durch jene Weltvernichtungsmittel gesetzt, die sich in einer prekären „balance of terror“, einem Gleichgewicht des atomaren Schreckens, gegenseitig neutralisieren.
Diese zweiphasige Ära der Weltkriege, Revolutionen und Bürgerkriege wird in den 1970er-Jahren schließlich abgelöst von einer dritten Phase, in der die politische Karte des Globus im Großen und Ganzen festgelegt ist und die 192, meist jungen Mitgliedsstaaten, die die Vereinten Nationen inzwischen zählen, vorwiegend mit ihrer inneren und äußeren, politischen und ökonomischen Konsolidierung beschäftigt sind. Genau an dieser historischen Schnittstelle haben sich jene disparaten Phänomene herausgebildet und zu einer epidemisch ansteigenden Welle verdichtet, die wir heute als den „Terrorismus“ der Gegenwart wahrnehmen. In einer weiteren, vierten Phase nach dem Zusammenbruch des östlichen, sowjetisch geführten Weltlagers seit 1989 haben diese terroristischen Bewegungen ihr Terrain noch einmal erweitert und ihre ideologische Färbung gravierend verändert, sodass man von einer neuen, zweiten Welle eines entbundenen und globalisierten Terrorismus sprechen kann.
Zu den gemeinsamen Merkmalen der ineinander übergehenden terroristischen Wellen seit den 1970er-Jahren bis heute gehört es, dass ihre Träger durchweg sub-staatliche Akteure sind, auch dort, wo sie mit Hilfe oder als Instrumente „befreundeter“ Staaten und Geheimdienste über die Grenzen des eigenen Landes hinaus operieren. Zugespitzt formuliert haben sich diese Wellen des Terrors in einer Weltsituation entwickelt, die im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Ären der Weltkriege, Revolutionen und Bürgerkriege durch eine relative Beruhigung ausgezeichnet ist – auch wenn das uns als den Zeitgenossen des anbrechenden 21. Jahrhunderts ganz und gar nicht so erscheinen will. Begleitet war und ist diese Entwicklung von einer zwar ungleich verteilten, aber dennoch historisch beispiellosen sozialökonomischen Entwicklung, die nicht nur ein Land wie China zur dritten Wirtschaftsmacht der Welt gemacht, sondern die auch zur weitgehenden Auflösung der einst so romantisch umwitterten „Dritten Welt“ geführt hat.
Das Phänomen des neuen Terrorismus lässt sich – mindestens für die Periode vor 2001 – in Zahlen fassen. So stieg die Anzahl der auf nationaler oder internationaler Ebene operierenden terroristischen Organisationen von einem knappen Dutzend im Jahr 1968 auf rund achtzig kleinere oder größere Gruppen zu Anfang der neunziger Jahre. Inzwischen sind es eher noch mehr geworden, auch wenn einige der hartnäckigsten Terrorformationen den Kampf inzwischen aufgegeben haben, wie die nordirische IRA, oder militärisch zerschlagen worden sind, wie der „Leuchtende Pfad“ in Peru oder die tamilischen „Tiger“ auf Sri Lanka.
Die ideologischen Gewichte haben sich von einer eher linken, säkularen Orientierung entweder in Richtung eines ethnischen und kulturellen Fundamentalismus verschoben – so etwa im Fall der baskischen ETA, der kurdischen PKK oder der erwähnten tamilischen „Tiger“-, oder hin zu einem religiösen Fundamentalismus, am extremsten in Gestalt des neuen, miteinander vernetzten islamistischen Terrorismus. Al-Qaida – zu deutsch: die Basis – ist dafür offenbar mehr ein Name und eine Adresse als eine tatsächliche, planmäßig operierende Gesamtorganisation.
Die Zahl der terroristischen Gruppen zugeschriebenen Anschläge stieg schon bis 1988 in die astronomische Höhe von über Hunderttausend. Aber von den 10.000 Menschenleben, die diese Anschläge und der oft noch blutigere staatliche Gegenterror forderten, entfielen 5000 allein auf die Türkei und über 2600 auf Nordirland. Würde man die Entwicklungen bis heute mit einbeziehen, also auch alle Anschläge islamistischer Gruppen, inclusive der Al-Qaida und einschließlich des 11. September 2001, des bisher größten Terroranschlags überhaupt, so würde man noch immer bei Opferzahlen ankommen, die in die Tausende oder Zehntausende gehen, aber nicht in die Hunderttausende und Millionen wie in der Ära der Weltkriege und Bürgerkriege des 20. Jahrhunderts.
Die Opfer, die der reine Terrorismus gefordert hat, verblassen selbst vor den 140.000 Menschen, die alleine im mehrjährigen Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina in den 1990er-Jahren eines gewaltsamen Todes gestorben sind – als Teil eines postjugoslawischen Nachfolgekriegs, der sich trotz der fast systematisch eingesetzten Terrormittel von Mord und Massaker, Folter und Vergewaltigung unter dem Gesamttitel „Terrorismus“ dennoch nicht sinnvoll verbuchen lässt.
Ähnliches gilt für die postsowjetischen Nachfolgekriege der 1990er-Jahre, von Tschetschenien bis zum jüngsten Georgienkrieg. Und in noch ganz andere Dimensionen gerät man, wenn man die Hunderttausende von Massakrierten in Ruanda oder die Millionen von Toten der endemischen Bürgerkriege im Kongo, in Somalia, im Sudan und einigen anderen Ländern der Welt dagegenstellt. „Terrorismus“ als eine Kampfform war und ist dabei immer mit im Spiel, aber beschreibt eben nicht das Wesen dieser Konflikte.
Eher handelt es sich um späte, verworrene, mörderische Nachspiele jener Ära der Welt- und Bürgerkriege des frühen 20. Jahrhunderts, in denen totalitäre Massenbewegungen und Regimes alle Maßstäbe kriegerischer Gewalt und zivilem Terrors auf völlig neue Stufen gehoben hatten. Auch damals traten diese Bewegungen und Regimes als Antagonisten einer hegemonialen Welt des bürgerlich-kapitalistischen Westens auf, dessen Hauptmächte nicht nur die Weltmärkte und Weltmeere, sondern vor und nach 1945 auch noch ganze oder halbe Kontinente beherrschten. Von diesem Widerspruch nährten sich die auf innerer Gleichschaltung und ethnischer Homogenisierung beruhenden Großreichsprojekte der faschistischen Mächte des Zeitalters, insbesondere Deutschlands, Italiens und Japans, die die alten Imperialismen, an erster Stelle das britische Weltreich, gewaltsam beerben und übertrumpfen wollten.
Von diesem Widerspruch nährte sich aber auch das andere totalitäre Projekt des Weltkriegszeitalters, der russische Bolschewismus, der seine volle Radikalität zunächst nach innen hin entfaltete. Schon im russischen Bürgerkrieg übertrumpften die Bolschewiki den Terror ihrer Bürgerkriegsgegner durch einen „roten Terror“, der einen völlig neuartigen Charakter trug. In einer Replik auf die Kritiken des eminenten deutschen Marxisten Karl Kautsky schrieb Leo Trotzki, damals neben Lenin der zweite charismatische Führer der bolschewistischen Revolution und Schöpfer der Roten Armee, unter dem provokativen Gegentitel „Kommunismus und Terrorismus:
„Die Aufgabe der Revolution wie des Krieges besteht darin, den Willen des Feindes zu brechen und ihn zur Kapitulation und zur Annahme der Bedingungen des Sieges zu zwingen. Je erbitterter und gefährlicher der Widerstand des niedergeworfenen Klassenfeindes ist, desto unvermeidlicher verdichtet sich das System der Repressalien zu einem System des Terrors.“
Diese Argumentation war scheinbar glasklar, in Wahrheit aber beschönigend. So war Lenin schon unmittelbar nach der Machteroberung einen entscheidenden Schritt weiter gegangen, als er mit Blick auf den „terreur“ der französischen Revolution schrieb:
„Die Guillotine schüchterte nur ein, brach nur den aktiven Widerstand. Wir müssen auch den passiven, zweifellos noch gefährlicheren und schädlicheren Widerstand brechen.“
Dazu dienten auch die Mittel eines neuartigen sozialen Terrors, von den Enteignungen der Fabriken, Läden, Häuser und Wohnungen bis hin zur Verhängung einer Zwangsarbeitspflicht sowie der Beschlagnahme aller privaten Guthaben und Lebensmittel. Auch die widerständigen Bauern, die gerade das Land unter sich verteilt hatten, wurden mit vorgehaltener Waffe zur Ablieferung ihrer kleinen Überschüsse und Vorräte gezwungen. Im Bürgerkrieg folgten dann massenweise Geiselnahmen, auch von Angehörigen flüchtiger Beamter oder Offiziere, und in immer wachsendem Maße summarische Erschießungen, für die es keiner konkreten Widerstandshandlungen bedurfte, sondern die einen zunehmend prophylaktischen Charakter annahmen. Als die Bolschewiki den Bürgerkrieg gewonnen hatten, bestand Lenin ausdrücklich darauf, dass der Terror zu einem regulären Instrument einer künftigen Justiz werden müsse, so in einer Anweisung zum neuen Strafgesetzbuch von 1922:
„Das Gericht soll den Terror nicht beseitigen, sondern ihn prinzipiell, klar, ohne Falsch und ohne Schminke begründen und gesetzlich verankern. Die Formulierung muss so weit gefasst wie möglich sein, denn nur das revolutionäre Rechtsbewusstsein und das revolutionäre Gewissen legen die Bedingungen fest für die mehr oder minder breite Anwendung in der Praxis.“
Das entsprach einem Begriff der „Diktatur des Proletariats“, den Lenin immer wieder und ausdrücklich als eine an keine Einschränkungen und keine Regeln und Gesetze gebundene Form revolutionärer Gewalt und Machtausübung beschrieben hatte. Die angebliche Bindung an „das revolutionäre Rechtsbewusstsein und das revolutionäre Gewissen“ erwies sich vollends als Phrase, als sein Nachfolger Josef Stalin nach der verheerenden Kollektivierungs- und Industrialisierungsrevolution der 1930er-Jahre daran ging, alle angenommenen, selbst passiven Widerstände prophylaktisch niederzuhalten und auszurotten, und das nicht nur im noch weithin bäuerlichen und multinationalen Sowjetvolk, sondern auch im eigenen Machtapparat und der eigenen Partei.
Vor allem die Ereignisse des „Großen Terrors“ der Jahre 1937/38 waren historisch völlig präzedenzlos, als 700.000, vielleicht aber auch eine Million Menschen innerhalb von zwei Jahren erschossen und Millionen andere in die Zwangsarbeitslager des GULag-Systems geschickt wurden. Zeiten eines solchen „großen Terrors“ haben alle kommunistischen Parteien und Regimes vor und nach ihrer Machteroberung durchlaufen – wobei sich dieser Terror zu einem guten Teil stets auch gegen reale oder vermeintliche Abweichler in den eigenen Reihen gerichtet hat. In diesem Sinne war der Terror, oft bis in die höchsten Führungsspitzen hinein, geradezu ein regelmäßiger, auch interner Betriebsmodus dieser Regimes, jedenfalls in ihren formativen Gründungsphasen.
Nichts von alledem findet man auf der Seite der parallelen faschistischen Bewegungen und Regimes. So weit sie Terror übten, passierte das kaum in den eigenen Reihen und relativ gezielt gegen ihre aktiven Gegner. Im Großen und Ganzen brauchten Hitler oder Mussolini ihre Völker nicht in derselben Weise zu terrorisieren wie Stalin oder Mao. Ihr aggressiven Potenziale richteten sich vorwiegend nach außen, und ihre totalitäre Vernichtungswut galt in erster Linie den unterworfenen und versklavten Fremdbevölkerungen sowie all denjenigen, die aus den Reihen von Volk und Rasse als lebensunwert oder schädlich auszusondern waren: von den Euthanasieopfern bis hin zu den „Zigeunern“ und den jüdischen Opfern des Holocaust. Das waren Akte eines partiellen oder vollendeten Genozids, einer schieren Menschenvernichtung, aber kaum Akte des Terrors. Wen hätten sie „terrorisieren“, also einschüchtern oder abschrecken sollen?
Hier wie überhaupt kommt alles auf die Genauigkeit der historischen Einordnungen und Begriffe an. Akte des Terrors waren vor allem in den Bürger- und Befreiungskriegen der Ära der Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg eine verbreitete und fast reguläre Kampfform, von Algerien bis Vietnam. Dazu zählen etwa die gezielten Morde an Siedlern und die verheerenden Bombenanschläge, oft auch Selbstmordattentate, der algerischen FNL auf belebten Plätzen in der Schlacht von Algier 1957, die von den französischen Militärs und Siedlern mit einem noch exzessiveren Gegenterror beantwortet wurden. Einen rein terroristischen Charakter trug auch die systematische Mordkampagne der vietnamesischen Befreiungsfront gegen Tausende von Dorfältesten in Südvietnam, die die militärische Infiltration von Norden in den 1960er-Jahren begleiteten.
Aber im Kern waren das dennoch militärische Auseinandersetzungen, Partisanenkriege, wie sie in den Weltkriegsjahren gegen die deutschen, italienischen oder japanischen Okkupanten bereits begonnen hatten. Nach den anachronistischen militärischen Wiederbesetzungen durch die alten Kolonialmächte, schließlich den militärischen Interventionen der USA gegen den angeblichen „Vormarsch des Kommunismus“ in Asien oder Afrika trieben sie umso schneller und radikaler auf eine Entscheidung zu – die letztlich nur in eine Richtung fallen konnte: die des Abzugs der Kolonialisten, in Indochina 1975 auch der US-Truppen.
Die linksterroristischen Gruppen, die sich Ende der 1960er-Jahre als Absplitterungen kommunistischer Parteien oder Befreiungsorganisationen in Lateinamerika und im Nahen Osten, aber ebenso auch aus den Jugend- und Studentenbewegungen in den USA, in Westeuropa und in Japan bildeten, standen ganz im Banne dieser Erfahrungen, insbesondere auch des noch andauernden Entscheidungskriegs in Vietnam. Aber ihre Ziele und Perspektiven lösten sich zunehmend von allen konkreten Konflikten, wurden immer abstrakter und totaler.
Ein wesentliches Verbindungsglied war die Figur und Karriere des jungen argentinischen Arztes Ernesto Che Guevara, der aus seiner Teilnahme an der kubanischen Revolution einen Katechismus des Guerillakampfs destilliert hatte, der die trügerische Leichtigkeit dieses Triumphs in ein vermeintlich universales Weltbefreiungsszenario überführte:
„Wir haben bewiesen, dass eine kleine Gruppe entschiedener Männer mit Unterstützung des Volkes und ohne Furcht zu sterben, wenn es nötig sein sollte, sich gegen eine disziplinierte Armee behaupten und sie sogar entscheidend schlagen kann.“
Guevara plante, sich in den Spuren der gescheiterten „Befreier“ Lateinamerikas im 19. Jahrhundert wie Simón Bolívar und San Martín selbst an die Spitze eines kontinentalen Guerillakriegs gegen den – wie er behauptete – weltbeherrschenden US-Imperialismus zu stellen. So wurden in Kuba Dutzende kleiner Guerilla-Einheiten trainiert, die allesamt binnen kurzem scheiterten. Che selbst dachte inzwischen in noch größeren Dimensionen: In seinem Aufruf vom Frühjahr 1967 an die nach seinen Vorstellungen gebildete, kurzlebige „Tricontinentale“ – eine Art Weltbefreiungsorganisation mit Sitz in Havanna – erging er sich in hymnischen Visionen eines Endkampfs gegen die „große Bestie“, eines globalen Armageddon:
„Wie licht und nah würde sich uns die Zukunft darbieten, wenn zwei, drei, viele Vietnams auf der Erdoberfläche zutage träten, mit ihrem Blutzoll und mit ihren ungeheuerlichen Tragödien, mit ihrem täglichen Heldentum, mit ihren unablässigen Schlägen gegen den Imperialismus … Wo immer uns der Tod trifft, er sei uns willkommen, wenn nur unser Kriegsruf aufnahmebereite Ohren getroffen hat … und andere Menschen sich daran machen, den Trauermarsch zu intonieren mit dem Geknatter von Maschinengewehren und neuen Kriegs- und Siegesrufen.“
Er selbst saß zu diesem Zeitpunkt bereits mit einer Handvoll Getreuen, von der Armee umzingelt, im Dschungel von Bolivien, das eigene Ende nah vor Augen. Es war dann, wie man weiß, das Bild des christusgleich aufgebahrten Che, das im Oktober 1967 die Jugend der Welt, nicht zuletzt auch der westlichen Welt, elektrisierte – so auch die die jungen Männer und Frauen, die in der Bundesrepublik Deutschland im Frühjahr 1970 „abtauchten“ und die RAF sowie zwei weitere bewaffnete Untergrundorganisationen bildeten. Was die gesellschaftlichen Umstände an Konfliktstoff nicht hergaben – es begann ja gerade die Periode der sozialliberalen Reformen unter der Ägide Willy Brandts – wurde durch einen radikalen Voluntarismus wettgemacht, so wie in der ersten Erklärung der RAF an die Adresse der vormaligen Mitstreiter in der außerparlamentarischen Linken:
„Ob es richtig ist, den bewaffneten Widerstand jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist; ob es möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln.“
Bewaffneter Kampf gegen den Imperialismus war also ein prinzipielles – man könnte auch sagen: ein existenzielles – Postulat, eben im Geiste Guevaras, der die Jugend der imperialistischen Länder aufgerufen hatte, den Kampf „in der Brust der Bestie“ selbst aufzunehmen. Gruppen wie die RAF sahen sich dementsprechend als „Stadtguerilla“ in einem Metropolenland. Um das idealtypische „revolutionäre Subjekt“ die „Arbeiterklasse“, zu mobilisieren, setzte sie vor allem auf die gewaltsamen Gegenreaktionen der gereizten Machtorgane. Im esoterischen RAF-Jargon, hier in einer Prozesserklärung von Ulrike Meinhof, hieß das etwa:
„das ist die dialektik der strategie des antiimperialistischen kampfes: dass er durch die … reaktion des systems, die eskalation der konterrevolution, die umwandlung des politischen ausnahmezustandes in den militärischen ausnahmezustand der feind sich kenntlich macht … und so, durch seinen eigenen terror, die maßen gegen sich aufbringt, die widersprüche verschärft, den revolutionären kampf zwingend macht.“
Für die RAF galt in besonderer Weise, was für alle sozial entbundenen terroristischen Gruppen charakteristisch war und ist: dass ihr Handeln – wie Peter Waldmann es formuliert hat – weniger einer militärischen Logik folge als eine Kommunikationsstrategie sei. Es setze mehr auf den Publizitätseffekt und auf sekundäre psychologische als auf unmittelbar physische, machtmäßige Wirkungen. Wie ein führendes Mitglied der Gruppe „Schwarzer September“ über das von der RAF bejubelte, in einem Inferno endende Münchner Olympia-Attentat vom Sommer 1972 so triumphierend wie naiv erklärte:
„In Wahrheit war die Münchener Operation ein großer Propagandasieg. 4000 Journalisten und Radioleute und 2000 Kommentatoren und Fernsehtechniker waren da, um von den Olympischen Spielen zu berichten; plötzlich berichteten sie vom Leid des palästinensischen Volkes. So wurden 900 Millionen Menschen in 100 Ländern vor ihren Fernsehschirmen Zeugen der Operation.“
In Zitaten wie diesem, aber auch in menschenverachtenden Aktionen vom Typ des Münchner Massakers selbst, werden die degenerativen Momente unmittelbar deutlich, denen politische Organisation, die sich primär terroristischer Mittel bedienen, fast zwangsläufig unterliegen.
Dies hat Fjodor Dostojewski im 19. Jahrhundert als die „Dämonen“ des Terrors beschrieben – mit Blick auf die damaligen Gruppen russischer Revolutionäre aus der Intelligenzija, die sich mit der zaristischen Staatsmacht in einen mörderischen Zweikampf verwickelten. Ein solch abgelöster Terrorismus war und ist notorisch erfolglos. Ob er dennoch in der Lage sein könnte, die heutige Welt durch herostratische Großanschläge wie die des 11. September derart zu destabilisieren, dass auch eine Ära neuer globaler und regionaler Konflikte zwischen den Mächten unseres Zeitalters wieder denkbar würde, so wie vor knapp hundert Jahren die Schüsse eines Terroristen in Sarajevo das Feuer an die Lunte eines Weltkriegs legten, das ist die eigentliche, bange Frage.
„Die größte aller Revolutionen“
Reihe: Politische Gewalt im 20. Jahrhundert, Teil 2
Von Robert Gerwarth
http://www.deutschlandfunk.de/die-groesste-aller-revolutionen.1184.de.html?dram:article_id=185398
Die deutsche November-Revolution von 1918, die im Vergleich zu den Umbrüchen in anderen Ländern dieser Zeit recht unblutig verlief, gehört zudem zu den umstrittensten Ereignissen der neueren deutschen Geschichte.
Am 10. November 1918, einen Tag nach dem Untergang des Deutschen Kaiserreichs und der Geburt der ersten deutschen Demokratie aus Kriegsniederlage und Revolution, veröffentlichte der prominente Chefredakteur des liberalen Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, eine Lobeshymne auf die Ereignisse des Vortages: „Die größte aller Revolutionen hat wie ein plötzlich losbrechender Sturmwind das kaiserliche Regime mit allem, was oben und unten dazu gehörte, gestürzt. Man kann sie die größte aller Revolutionen nennen, weil niemals eine so fest gebaute, mit soliden Mauern umgebene Bastille so in einem Anlauf genommen wurde … Gestern früh war, in Berlin wenigstens, das alles noch da. Gestern Nachmittag existierte nichts mehr davon. Wolffs enthusiastische Einschätzung der Novemberereignisse in Deutschland ist seither von wenigen Kommentatoren geteilt worden. Auch unter Historikern gehört die deutsche Revolution von 1918/19 bis heute zu den umstrittensten Ereignissen der neueren deutschen Geschichte. Gestritten wird über die Revolution vor allem deshalb, weil ihr wichtigstes Ergebnis, die parlamentarische Demokratie, keinen dauerhaften Bestand hatte und 1933 der Diktatur Hitlers wich. Das Scheitern der Weimarer Republik hat seither die Frage aufgeworfen, ob seine tieferen Ursachen in der Entstehungsgeschichte der ersten deutschen Demokratie zu lokalisieren sind und die Deutschen 1918 nicht zu wenig Revolution gewagt hätten. Bemerkenswert ist allerdings, dass in der Diskussion über den historischen Standort der deutschen Revolution nur selten der europäische Rahmen Erwähnung findet, in dem sich die Ereignisse von 1918 abspielten. Denn die deutsche Revolution war lediglich eine unter vielen Erhebungen zwischen 1916 und 1923 und, im internationalen Vergleich, die vielleicht unblutigste. Bereits zu Ostern 1916 hatte sich die IRA in Dublin zum revolutionären Aufstand gegen die britische Besatzungsmacht erhoben. Ein Jahr später stürzte die Romanow-Dynastie in Russland, einem Land, das in den folgenden Jahren den wohl blutigsten Bürgerkrieg der Weltgeschichte erlebte. Im benachbarten Finnland tobte ab Januar 1918 ebenfalls ein Bürgerkrieg, dem Zehntausende von Menschen zum Opfer fielen. Auch in Deutschlands unmittelbarer Nachbarschaft brachten revolutionäre Bewegungen alteingesessene Regime zu Fall: Bereits Ende Oktober war die jahrhundertealte Habsburger-Monarchie zusammengebrochen, in Wien übernahm der Sozialist Karl Renner die Kanzlerschaft, in Budapest strebte Béla Kun die Errichtung einer sozialistischen Republik nach sowjetischem Vorbild an. Selbst im zusammengebrochenen Osmanischen Reich schickte sich eine nationalrevolutionäre Bewegung unter Kemal Atatürk an, die politische Macht zu übernehmen. Politische Gewalt war in der sogenannten „Nachkriegszeit“ die europäische Norm, Frieden die seltene Ausnahme. All diesen revolutionären Bewegungen war gemein, dass sie ohne den Ersten Weltkrieg wohl niemals zum Tragen gekommen wären. Wichtiger noch als der Krieg war die Erfahrung der militärischen Niederlage, denn nur in den Staaten, die zu den Verlierern des Ersten Weltkriegs gehörten, war der Staat so geschwächt, dass er den Herausforderungen sozialer und politischer Unruhen nicht begegnen konnte. Die Ereignisse in Deutschland fügen sich daher in ein breiteres europäisches Muster. Nach dem Scheitern der zunächst glücklich verlaufenen deutschen Sommeroffensive von 1918 musste die Oberste Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff einsehen, dass der Krieg verloren war. Sie drängte auf einen sofortigen Waffenstillstand auf der Grundlage der im Januar 1918 vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson proklamierten „14 Punkte“ und, damit verbunden, auf die Bildung einer vom Vertrauen der Reichstagsmehrheit abhängigen Regierung. Grundgedanke dieser im Oktober eingeleiteten Wende war, dass die Reform „von oben“ einer Revolution „von unten“ zuvorkommen sollte. Die rasch um sich greifende Revolutionsfurcht der wilhelminischen Führungsschichten ist ohne den europäischen Kontext schwer nachzuvollziehen. Es waren die Ereignisse in Russland und die sich abzeichnenden Revolutionen im Habsburgerreich, die ihnen deutlich machten, dass nur eine radikale politische Kehrtwende einer Eskalation vorbeugen konnte. Doch die innenpolitische Wende kam in Deutschland wie anderswo zu spät. In Kiel meuterten die Matrosen der Hochseeflotte, in München übernahm der unabhängige Sozialdemokrat Kurt Eisner die Macht, und in Berlin sahen die Spartakisten ihre Stunde gekommen und riefen zum Generalstreik auf. Es war kein Zufall, dass der revolutionäre Funke auf den Schiffen der kaiserlichen Marine zündete. Als die Marineführung Ende Oktober 1918 den Befehl gab, die Flotte zu einem letzten Gefecht gegen England auslaufen zu lassen, verweigerten die Matrosen den Gehorsam. Sie hatten keine Lust, sich kurz vor Kriegsende für eine sinnlose Todesfahrt opfern zu lassen. Von Kiel aus griff die Bewegung weitgehend ohne Gegenwehr auf Hamburg, Bremen, Lübeck und Cuxhaven über. Hier lag eine der Besonderheiten der deutschen Revolution, die anders als in Russland, Ungarn oder Irland nicht im Zentrum der Macht ihren Ursprung nahm, sondern an der Peripherie. Erst zwei Tage später, am 9. November, erreichte die Revolution Berlin. In den Morgenstunden traten die Arbeiter der Großbetriebe in den Generalstreik; die Soldaten in den Garnisonen solidarisierten sich mit ihnen. Von den Außenbezirken bewegten sich lange Demonstrationszüge zum Regierungsviertel in der Wilhelmstraße, wie der Berliner Fabrikant Oskar Münsterberg in seinem Tagebuch beschrieb: „Als ich die Wilhelmstraße … hinunter gehe, sehe ich schwarze Menschenreihen stehen … Es ist wirkliche Revolution, aber merkwürdig – die großen weltbewegenden Gedanken und Ergebnisse und diese Jungens, Kinder mit roten, erhitzten Gesichtern mit unsympathischem Ausdruck, die eher an Ritter- und Räuberspiele erinnern als an die Träger der weltbewegenden Revolutionskraft. Wilhelm II. war zu diesem Zeitpunkt nur noch ein Zaungast der Ereignisse. Seit Tagen hatte der Reichskanzler, Prinz Max von Baden, vergeblich versucht, den im Hauptquartier der Obersten Heeresleitung im belgischen Spa weilenden Kaiser zur Abdankung zu bewegen. Doch Wilhelm zögerte die Entscheidung immer weiter hinaus. Am 9. November blieben ihm nur noch drei Optionen: Er konnte entweder den „Heldentod“ an der Westfront suchen und damit die Hohenzollern-Dynastie in den Augen deutscher Nationalisten aufwerten oder an der Spitze kaisertreuer Verbände nach Berlin marschieren und versuchen, die Revolution im Keime zu ersticken. Die dritte Option war, sich der Verantwortung ganz zu entziehen und ins neutrale Ausland zu flüchten. Nachdem vier Monate zuvor der Cousin des Kaisers, der russische Zar Nikolaus II., von den Bolschewiki ermordet worden war und Wilhelm befürchten musste, dass ihm Ähnliches drohte, wählte er die für die Hohenzollern-Dynastie verheerende dritte Option: Er floh. Am Morgen des 10. November überquerte er mit seiner Entourage die holländische Grenze. Die Hoheitszeichen auf seinem Auto hatte man zuvor entfernt – aus Furcht vor marodierenden Revolutionären. Der damalige Reichspräsident Friedrich Ebert (Mitte) 1920 – gegen Mittag des 9. November 1918 hatte Max von Baden dem Vorsitzenden des Mehrheitsflügels der Sozialdemokratie, Friedrich Ebert, die Reichskanzlerschaft übertragen. Gegen Mittag des 9. November hatte Max von Baden eigenmächtig die Nachricht verbreiten lassen, dass der Kaiser dem Thron entsagt habe. Kurze Zeit später übertrug er dem Vorsitzenden des Mehrheitsflügels der Sozialdemokratie, Friedrich Ebert, die Reichskanzlerschaft. Um 2 Uhr nachmittags – Ebert und Scheidemann waren gerade beim Mittagessen im Reichstagsgebäude – verlangte eine Menschenmenge vor dem Parlamentssitz den demonstrativen Bruch mit dem alten System. Scheidemann trat spontan auf einen Balkon des Reichstags und rief die „deutsche Republik“ aus: Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das Alte, Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt! Die Hohenzollern haben abgedankt! Der Beifall der Menge war groß, doch Ebert war von Scheidemanns Alleingang überhaupt nicht begeistert. Seine Position war durch die Überzeugung geprägt, dass das wilhelminische Kaiserreich ungeachtet aller obrigkeitsstaatlichen Züge der Arbeiterschaft eine Reihe an Freiheiten bot: das Recht auf politische Organisation und Partizipation, ein im europäischen Vergleich einzigartiges soziales Sicherungssystem und einen Rechtsstaat, dessen Errungenschaften selbst in Großbritannien mit Interesse studiert wurden. Im Falle eines Bürgerkrieges – und diese Gefahr war im Spätherbst 1918 keineswegs abwegig – hätten deutsche Arbeiter, anders als im zaristischen Russland, mehr zu verlieren gehabt als nur ihre Ketten. Was Ebert deshalb vorschwebte, war eine organische Fortentwicklung zur parlamentarischen Demokratie, eine Politik der Evolution, nicht der Revolution. Doch dafür war es jetzt zu spät. Während Ebert die Proklamation Scheidemanns zu weit ging, hielten sie radikalere Sozialisten für halbherzig. Ein Teil der revoltierenden Arbeiter und Soldaten strebte im November 1918 ein Rätesystem nach bolschewistischem Vorbild an, eine „Diktatur des Proletariats“. Nur zwei Stunden später proklamierte deshalb der Führer des linken Flügels der Unabhängigen Sozialdemokraten, Karl Liebknecht, vom Balkon des Berliner Stadtschlosses aus die „freie sozialistische Republik Deutschland“. Liebknecht, der 1914 als einziger SPD-Abgeordneter die Kriegskredite abgelehnt hatte und zwischen 1916 und Ende Oktober 1918 wegen „Kriegsverrats“ im Gefängnis einsitzen musste, zeigte sich freudig überrascht über die jüngsten Ereignisse: Die Herrschaft des Kapitalismus, der Europa in ein Leichenschauhaus verwandelt hat, ist gebrochen. Dann aber machte Liebknecht deutlich, dass das eigentliche Werk der revolutionären Umwälzung, die soziale Revolution nach russischem Vorbild, noch bevorstand: „Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen und eine neue staatliche Ordnung des Proletariats zu schaffen, eine Ordnung des Friedens, des Glücks und der Freiheit unserer deutschen Brüder und unserer Brüder in der ganzen Welt. Wir reichen ihnen die Hände und rufen sie zur Vollendung der Weltrevolution auf.“ Liebknechts Rede barg enormen Sprengstoff für das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen den beiden deutschen Arbeiterparteien: den Mehrheitssozialdemokraten, die bis zum bitteren Ende 1918 im Reichstag der kaiserlichen Regierung Kriegskredite bewilligt hatte, und der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei, kurz USPD genannt, die sich im Frühjahr 1917 aus Opposition gegen diese Politik von der Mutterpartei getrennt hatte. Um die Spannungen zwischen den beiden Flügeln der deutschen Arbeiterbewegung nicht in einen gewaltsamen „Bruderkampf“ eskalieren zu lassen und um jeden Preis zu verhindern, dass sich in Deutschland Zustände entwickelten wie in Russland nach der Revolution der Bolschewiki im November 1917, schlug Ebert noch am Nachmittag des 9. November den Vertretern der USPD vor, gemeinsam eine Regierung zu bilden. Nach der Bildung des Rates der Volksbeauftragten trat eine gewisse Beruhigung ein. Doch die brennende Frage der zukünftigen Richtung der revolutionären Erneuerung Deutschlands war durch die Gründung des Rates der Volksbeauftragten lediglich vertagt worden. Anders als der linke Flügel der USPD wollten sich die Führer der Mehrheitssozialdemokratie nicht auf radikalsozialistische Experimente einlassen. Die Herausforderungen waren enorm: Das Deutsche Reich hatte soeben den bis dahin blutigsten Krieg der Menschheitsgeschichte verloren, einen Krieg in dem mehr als 13 Millionen deutsche Männer mobilisiert und zwei Millionen gefallen waren. Abgesehen von der Entwertung ganzer Biografien durch die militärische Niederlage gab es bei Kriegsende etwa 2,7 Millionen physisch und psychisch versehrte Veteranen und nur wenige Politiker waren naiv genug um anzunehmen, dass der noch zu verhandelnde Friedensvertrag ein Verständigungsfrieden ohne finanzielle und territoriale Forderungen der Alliierten sein würde.
Anders als die Bewältigung dieser enormen Tagesprobleme sollte die langfristige Frage der gesellschaftlichen und politischen Zukunft Deutschlands von einer demokratisch gewählten verfassunggebenden Nationalversammlung entschieden werden. Die Vertreter des linken USPD-Flügels und die sogenannte „Spartakusgruppe“ um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht lehnten dagegen die Nationalversammlung ab und sprachen sich für ein Rätesystem aus. Unter der Parole „Alle Macht den Räten!“ entfaltete die Spartakusgruppe eine rege Agitation für das Weitertreiben der Revolution. Rosa Luxemburg schrieb am 18. November, weniger als zwei Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis in Breslau, in der Roten Fahne: „Scheidemann-Ebert sind die berufene Regierung der deutschen Revolution in ihrem heutigen Stadium. Aber die Revolutionen stehen nicht still. Ihr Lebensgesetz ist rasches Vorwärtsschreiten …“