Unser krankes Denken
Die Flüchtlingswelle und die Brutalität der Schleuser beherrschen derzeit die Schlagzeilen. Doch wer trägt die Schuld an der Misere?
Nahostkorrespondent Ulrich W. Sahm führt die Krise auf eine altbekannte menschliche Untugend zurück.
Viele Menschen verstehen die Welt nicht mehr. Ein Leser aus Rot am See stellte im christlichen Medienmagazin „pro“ die Frage: „Woran krankt unser Denken“? Er erwähnt Syrien, wo inzwischen mehr als 300.000 Menschen von der Regierung oder Rebellen ermordet worden sind und die Hälfte der Bevölkerung geflohen ist. Er fragt, warum das scheinbar so wenige interessiert und was uns den Blick auf die Realität derart verstellt. Unser Denken krankt an vielen Dingen. Man könnte auch an das zum Massengrab gewordene Mittelmeer denken und an am Straßenrand abgestellte Lastwagen, aus denen nur noch Leichen gezogen werden.
Warum schweigen wir und wem nützt der Sündenbock?
Wir Europäer haben vor gar nicht so langer Zeit die schlimmsten Verbrechen der Menschheit begangen. Um die 60 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs zu bewerkstelligen, haben wir uns brav einer „Ideologie“ unterworfen, einem Religionsersatz. Nazismus, Kommunismus und sonstiger Fanatismus haben zu Massenmorden ungekannten Ausmaßes in Europa und Ostasien geführt. Da ist es billig, sich heute über unbeschreibliche Vorgänge in Syrien, dem Irak oder Libyen aufzuregen, als wäre das etwas Neues. Waren etwa die ermordeten Polen, Russen, Holländer oder Franzosen keine Christen, als Nazis, Kommunisten oder Andere sie umbrachten und alle geschwiegen haben?
Europa wird gerade mit Flüchtlingen überschwemmt. Wer ist schuld? Die Schlepper natürlich. Die verdienen sich eine goldene Nase damit, Flüchtlinge in ihren sicheren Tod ins Mittelmeer oder mit hermetisch verschlossenen Kühllastwagen über die Autobahn von Ungarn schicken. Doch sind es nur die Schlepper? Die wahren Schuldigen sitzen ganz woanders. Das sind die brutalen Tyrannen, die gewissenlos ihre Völker zerstören, ermorden oder millionenfach in die Flucht vertreiben. Manche haben einen Namen und ein Gesicht, wie Baschar al-Assad.
Dass Syrien schon seit Jahrzehnten eine brutale und korrupte Diktatur ist, in der Massaker an der eigenen Bevölkerung verübt wurden, durch Hafes al-Assad 1982 in Hama, wurde von der Weltöffentlichkeit geflissentlich ignoriert. Die Welt interessierte sich damals nur für die 700 Toten in Sabra und Schatila in Beirut. Zwar haben libanesische Christen sie ermordet, aber Israels Verteidigungsminister Ariel Scharon sollte dafür als „Kriegsverbrecher“ verantwortlich gemacht werden.
Wer damals Negatives über Syrien veröffentlichte, wurde beschuldigt, israelische Propaganda zu verbreiten. Man wollte die Fakten nicht wahrnehmen. Gleiches gilt für Ägypten, wo es sogar ein ARD-Büro und Botschaften gibt. Auch hier hat niemand sehen wollen, wie Hosni Mubarak mit seinem Volk umgegangen ist, bis er schließlich mit einem Volksaufstand gestürzt wurde. Und selbst dann verbreitete man dort auf dem Tahir-Platz das Märchen vom Kampf für Demokratie, während in aller Öffentlichkeit Frauen Massenvergewaltigungen erlitten.
Wir kranken auch daran, möglichst uns selber oder unsere engsten Verbündeten, vor allem die Amerikaner und Israelis, für alles schuldig zu sprechen. Dazu gehören der Anschlag auf das World Trade Center, den laut Verschwörungstheorien entweder der CIA oder der Mossad durchgeführt habe, obgleich Osama Bin Laden offen die Verantwortung übernommen hatte. Weil kaum Juden umgekommen seien, war klar, dass der Mossad sie gewarnt habe. Aber ein Augenzeuge, der den Anschlag in New York durch sein Klofenster beobachtet hat, verriet uns eine bessere Verschwörungstheorie: Hunderte Japaner arbeiteten im WTC. Doch wegen des Zeitunterschieds zu Japan arbeiteten sie nachts und gingen früh morgens nach Hause. Das rettete ihr Leben. Also müssen es Japaner gewesen sein …
Ein aktuelles Beispiel sind die Vorgänge im Jemen. Da wüten zwar die vom Iran aufgerüsteten Huthis, aber Tote melden die Nachrichtenagenturen und Amnesty International fast nur, wenn die saudische Luftwaffe mit amerikanischen Kampfflugzeugen bombardiert. Ähnlich berichtet man über die Palästinenser. In Libanon werden sie wie Bürger zweiter Klasse behandelt. In Syrien werden sie ermordet und ausgehungert und in Jordanien sind die Flüchtlinge „unerwünscht“.
Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) und die Hamas halten die Flüchtlinge von 1948 bis heute in Lagern fest, anstatt sie zu integrieren. Aber berichtet wird über sie nur, wenn es zu Zusammenstößen mit Israel kommt.
Man stelle sich nur mal vor, dass Deutschland die rund 14 Millionen Ostflüchtlinge von 1945 bis heute in Flüchtlingslagern festhielte.
Entmündigung und Überheblichkeit
Das Schlimmste an all diesen Geschichten ist, dass wir Europäer die Tyrannen der Dritten Welt, die Assads, Saddam Husseins, Gaddafis und wie sie sonst in Schwarzafrika heißen mögen, entmündigen. Jeder von ihnen kennt alle schmutzigen Tricks, um sich zu bereichern und schmieren zu lassen. Aber keiner wird zur Verantwortung gezogen, wenn er die eigene Bevölkerung unterdrückt und zur Flucht nach Europa treibt.
Wir Europäer dulden das nicht nur. Wir fördern sogar diese Destruktion, indem wir Milliardensummen an Entwicklungshilfe schicken, ohne den Verbleib der Gelder zu überprüfen. Damit erhalten wir die korrupten Regime am Leben und nehmen den Völkern jegliche Möglichkeit zur Eigenentwicklung. Am deutlichsten ist das bei den Palästinensern.
Wir im „moralischen“ Europa schauen auf die Wilden in „Arabien“ herab – wir protegieren sie wie Kinder, nehmen ihnen die Verantwortung für ihr Tun und merken nicht, woran unser Denken krankt.
Frühere Zeiten nannten das Superbia – Hochmut, und es galt nicht umsonst als Todsünde. Wir lassen uns diesen Hochmut sehr viel kosten. Jetzt machen sich die Völker auf den Weg nach Europa, und Europa weiß darauf keine Antwort. Hochmut, sagt das Sprichwort, kommt vor dem Fall.
Ähnliche Gedanken, aber noch krasser formuliert, hat Alexander Kissler in der Zeitschrift „Cicero“ veröffentlicht: „Kriegserklärungen kann man nur dadurch beantworten, dass man sich verteidigt. Der Westen aber ist zu dieser Anstrengung nicht willens und nicht fähig. Der Westen ist bedingt abwehrbereit. Und warum? Weil er verlernt hat, für Prinzipien einzustehen, die sich nicht rechnen; weil er sich in allen zentralen Punkten uneins ist; weil letztlich weder die Amerikaner noch die Franzosen oder die Briten sich für einen Terror abseits der eigenen Haustür interessieren.
Weil also der Westen nicht mehr weiß, wer er ist und wofür er steht.
Die maximale Entschlossenheit religiöser Apokalyptiker trifft auf die Selbstlähmung des Westens im Moment seiner größten Identitätskrise.
Die einen köpfen, die anderen schweigen.
Dank dieser Arbeitsteilung hat der ‚Islamische Staat‘ eine Zukunft, der Westen aber bald nur noch eine Vergangenheit. Zeit, dass sich was dreht.“ (uws) Von: Ulrich W. Sahm
http://www.israelnetz.com/hintergrund/detailansicht/aktuell/woran-krankt-unser-denken-93219/