Analyse:
Warum die Franzosen scheiterten
„Der Feind kann nicht bekämpft werden, wenn man ihn nicht einmal beim Namen nennen will.“ Das hat der Kommentator der Tageszeitung „Ha‘aretz“, Ari Schavit, angesichts des jüngsten Terrors in Frankreich im israelischen Fernsehen erklärt. Das Massaker in der Redaktion der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ und die Geiselnahme in einem koscheren Supermarkt in Paris könnten für Frankreich ein „Weckruf“ sein.
Schavit betonte, europäische und auch israelische Linke seien unfähig, islamischen Faschismus, der das Ziel habe, die liberale Ordnung Europas aus den Angeln zu heben, als „Faschismus“ zu bezeichnen. Das sei ein gesamt-europäisches Problem. Aus Angst, Moslems auszugrenzen, werde versucht, selbst den „Islamischen Staat“ (IS) nicht mit dem Islam in Verbindung zu bringen.
Die Unfähigkeit der Franzosen, die Attentäter der vergangenen Tage in Paris rechtzeitig auszumachen, liege an der französischen Verfassung, erklärte der israelische Botschafter in Paris, Jossi Gal. Die französische Verfassung verbiete es, nach der Religionszugehörigkeit zu fragen. Der Botschafter erzählte von israelischen Geheimdienstleuten, die ihren französischen Kollegen vorschlugen, ein sogenanntes „Profiling“ einzuführen, also verdächtige Personen gemäß bestimmten Kriterien herauszufiltern. So betrachten die Israelis Flugpassagiere als besonders verdächtig, wenn sie männliche Einzelreisende, Araber oder Moslems sind, oder Stempel arabischer Länder im Pass haben. Ähnlich gehen auch die Amerikaner vor. Doch die Franzosen hätten die Israelis wegen dieses Vorschlags „hochkantig rausgeworfen“.
Franzosen haben Augen verschlossen
Ein „Pauschalverdacht“ gegen religiöse oder ethnische Gruppen widerspreche französischen Grundrechten und Vorstellungen von Freiheit und Menschenrechten. So sei es in Frankreich „verboten“, von Moslems, Islam oder Islamisten zu sprechen. Deshalb sei in der französischen Berichterstattung über die Ereignisse in der Redaktion von „Charlie Hebdo“, den Mord an einem Verkehrspolizisten, den Überfall auf den Supermarkt „Hyper Cascher“ mit keinem Wort erwähnt worden, dass die Täter einen islamistischen Hintergrund hatten. Aus amerikanischen Quellen kam der Hinweis, dass Saïd Kouachi im Jemen war und dort in einem Camp von dem Terrornetzwerk „Al-Qaida“ an Waffen ausgebildet worden sei. Gleichzeitig wurde bekannt, dass er und sein jüngerer Bruder Chérif auf der amerikanischen No-Fly-Liste standen, dass ihnen Flüge in die USA verboten seien. Der französische Geheimdienst habe die Augen verschlossen und Saïd Kouachi nicht nach dessen Absitzen einer Gefängnisstrafe beschattet.
Der IS-Prediger Abu Saad al-Ansari hatte in Mossul behauptet: „Wir haben mit der Operation in Frankreich begonnen, für die wir die Verantwortung übernehmen.“ Und weiter: „Morgen werden es Großbritannien, die USA und andere sein.“ Diese Behauptung sollte wohl mit Vorsicht genossen werden, zumal andere Quellen einen Zusammenhang mit „Al-Qaida“ aus dem Jemen herstellen. Dennoch muss hier vermerkt werden, dass im Gazastreifen und anderswo im Nahen Osten die Attentäter von „Charlie Hebdo“ beglückwünscht worden sind. In Europa weigert man sich, einen Zusammenhang zwischen den Terroristen und jenen zu sehen, die ihnen zujubeln. Gleichwohl bestätigen Aussagen der Attentäter und frühere Interviews mit ihnen, dass es Verbindungen zu dem Geflecht islamistischer Organisationen gab, zu IS wie zu „Al-Qaida“.
Die Angst geht um
Das Massaker in der Redaktion der Satirezeitschrift und der Mord an zehn Journalisten könnte für Frankreich ein „Weckruf“ sein, heißt es in israelischen Berichten. Die geheiligte Pressefreiheit sei ins Herz getroffen worden. Doch der Überfall auf den Supermarkt reihte sich wieder in den „üblichen“ Terror aus Nahost ein: Anschläge auf jüdische Einrichtungen, wie zuvor schon in Toulouse oder auf das jüdische Museum in Brüssel.
In der großen jüdischen Gemeinschaft in Frankreich gehe die Angst um. Während 2014 etwa 7.000 Juden nach Israel ausgewandert seien, könnten es in diesem Jahr doppelt so viele werden. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg sind die Synagogen in Paris verschlossen geblieben. Fromme Juden haben die Sabbatgebete des Freitagabend in ihren Privathäusern gesprochen. Inhaber von Geschäften im Marais, dem traditionellen jüdischen Viertel von Paris, wurden von den Behörden aufgefordert, ihre Läden zu schließen. Wie der Reporter Boaz Bismut aus Paris berichtete, haben selbst Rabbiner und fromme Juden an diesem Freitagabend, trotz des Sabbat, den Fernseher laufen lassen. Denn erst am Abend kamen Berichte über Opfer bei der Befreiungsaktion der französischen Gendarmen im „Hyper Cascher“-Supermarkt. Neben vier Toten habe es auch mehrere Schwerverletzte gegeben, vermutlich Juden. Noch ist unklar, wann sie ums Leben gekommen sind, ob der Terrorist Amedy Coulibaly, 32, aus Mali sie erschossen hat oder die Polizisten. Dieser Terrorist war ein enger Freund der Kouachi-Brüder und hat sich mit ihnen offenbar abgestimmt. Der Supermarkt war ein Anziehungspunkt für Juden. In großer Zahl machten sie dort ihre Einkäufe vor dem Sabbat. Unverständlich ist, wieso es vor dem jüdischen Supermarkt keine Polizei oder Kontrolle am Eingang gegeben hat.